Schon im Jahr 1920 rief der britische Philosoph Bertrand Russel das Ende des Vaters aus:
Die Funktionen des Vaters sind auf ein Minimum verringert, weil die meisten Funktionen vom Staat übernommen werden.[…] Im modernen Leben ist die große Mehrzahl der Väter von ihrem Beruf so sehr in Anspruch genommen, dass sie von ihren Kindern nicht viel zu sehen bekommen. Morgens haben sie es eilig, zu ihrer Arbeitsstelle zu gelangen, und abends sind die Kinder schon im Bett oder sollten es sein. Man hört Geschichten von Kindern, die ihren Vater nur als den ‚Mann, der zum Wochenende kommt‘ kennen. […] Es ist richtig, dass der Vater seine Kinder auch sehr lieb hat trotz der wenigen Zeit, die er mit ihnen zusammen sein kann. Jeden Sonntag kann man in den ärmeren Gegenden Londons zahlreiche Väter mit ihren Kleinkindern beobachten, die offensichtlich an der kurzen Gelegenheit, ihre Jungen und Mädchen kennen zu lernen, riesige Freude haben. Aber wie sich das auch vom Gesichtspunkt des Vaters ansehen mag, für das Kind ist dies lediglich eine Spielbeziehung ohne ernsthafte Bedeutung.
Auch wenn sich die Rolle des Vaters in den letzten Jahren gewandelt hat und weiter wandelt, ist seine emotionale Präsenz im Alltag meist noch immer so gering, dass er zur männlichen Identitätsfindung seines Sohnes nur wenig beiträgt. Doch Mündigkeit setzt einen vorherigen Ablöseprozess voraus. Aber wovon sich lösen, wenn die Gelegenheit fehlte, sich mit all seinen Schwächen und Stärken zu identifizieren? Und so suchen viele Jungen ihre Männlichkeit nicht beim Vater, sondern in der Clique und bei pubertären Idolen. Diese fungieren aber nur als äußere Pose und können zur Entwicklung eines eigenen Bildes von Männlichkeit allenfalls geringfügig beitragen.
Die Folge ist ein regelmäßiges Zurückfallen in alte Entwicklungsstufen und findet sich wieder im geflügelten Wort vom „Kind im Manne“. Lothar Böhnisch beschreibt dies in „Viele Männer sind ein Mann“ wie folgt:
Früher lag die Macht des Vaters in seiner sichtbaren Distanz und der Beherrschung all dessen, was der Sohn noch zu lernen hat. Heute ist diese Distanz nicht mehr greifbar und damit auch nicht mehr die Autorität.
Mehr noch prägen heute Unsicherheit und die Angst vor dem Risiko, verdrängt zu werden, das Verhalten der Väter angesichts eines permanenten technologischen Fortschritts und einer Tendenz, väterliche Autorität grundsätzlich in Frage zu stellen. Wenn Väter ihre Rolle in der Familie und der Gesellschaft aber nicht wahrnehmen, wird die Lücke gefüllt mit dem Ruf nach einem Übervater. Eine Wiederkehr der patrimonialen Autoritäten, der Machtmänner in unseren Gesellschaften ist evident.
Wie der Mensch des Menschen bedarf, um Mensch zu werden, so bedarf der Sohn des Vaters, um Vater zu werden. (Alexander Mitscherlich)
Die Entwicklungspsychologie sieht in einer frühzeitigen Loslösung der Mutter-Kind-Symbiose durch einen emotional kompetenten Vater eine wünschenswerte Förderung der Eigenständigkeit des jungen Menschen. Voraussetzung ist jedoch, dass dem Vater eine gewisse Gefühlsintegration bereits gelungen ist. Ist der Vater emotional präsent und verkörpert er verschiedene allgemein-menschliche Gefühls- und Verhaltensweisen, dann wird er auch dem Sohn und der Tochter den Zugang hierzu erleichtern. Das Kind erlebt auf diese Weise zwei wesentlich unterschiedliche Bezugspersonen, die Erziehung gewinnt an Farbe und die emotionale Emanzipation des Kindes wird gefördert.
Nimmt der Vater gegenüber seinem Sohn jedoch eine Rolle von Gleichgültigkeit und Härte ein, muss der Sohn das sich bei ihm entwickelnde schwache Gefühl des Zurückgewiesenwerdens und der Verletzung abwehren. Er beginnt sich selbst mit ebensolcher Härte zu behandeln, um Traurigkeit und Enttäuschung nicht spüren zu müssen. Diese Form der Abwehr belastender und schmerzlicher Gefühle wird als „Identifikation mit dem Aggressor“ bezeichnet und hat nicht selten eine erschreckend unmenschliche Härte gegen sich selbst und gegenüber den Gefühlen anderer Menschen zur Folge.
Die Abwehr dient dem Schutz des eigenen psychischen Systems und hat den Charakter einer „letzten Notbremse“ vor einem drohenden Zusammenbruch angesichts überwältigender Attacken und nicht integrierbarer Affekte. Eine weitere Folge dieser Entwicklung ist eine verstärkte Ablehnung von als weiblich erachteten „schwachen oder weichen“ Gefühlen, die als nicht männlich komplett abgetan werden.
Verhindern ließe sich dies durch frühe Erfahrungen der erlebten Eigenständigkeit der mütterlichen und väterlichen Beziehungen. Zusätzlich zur emotionalen Kompetenz des Vaters setzt dies aber auch die Bereitschaft der Mutter voraus, sich relativ früh nach der Geburt auf ein kontinuierliches emotionales Engagement des Vaters einzulassen.